samstag, 23. oktober 2021
10:00 – 13:00 uhr
lvr-landesmuseum
HÖREN UND SEHEN
Vorträge
Helga de la Motte-Haber, Musikwissenschaftlerin (DE)
Audiovisuelle Wahrnehmung im Kontext mit künstlerischen Arbeiten
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Die Sinnesorgane sind das Interface zwischen Wahrnehmung und Umwelt. Sie transformieren eintreffende Reize in eine sinnliche Erfahrung. Nur ein begrenzter Ausschnitt der Umwelt kann wahrgenommen werden sowie nicht alle vorhandenen Unterschiede (absolute und relative Schwelle). Ein sensus communis, ein allen Sinnen Gemeinsames, wurde jedoch inzwischen auch oft belegt. Dabei spielt die Intensität der Reizeindrücke eine große Rolle. Licht und Klang lassen sich leicht parallelisieren (cross modality matching). Sie ergänzen sich wechselseitig. Davon abzuheben sind die sogenannten intermodalen Qualitäten, die auch bei einer unimodalen Wahrnehmung vorhanden sind. So können Klänge quasi visuell als voll, leer, rund, dick, als hoch oder tief etc. erlebt werden. Ihre materiale Basis ist schwer zu bestimmen.
Im Klang wird die eigene Position im Rundherum des Raums erlebt. Sehen kann man den Raum nicht, sondern nur Objekte, um die das Licht gebogen wird. Die Konstruktionen der audiovisuellen Wahrnehmung sind deshalb von besonderer Bedeutung. Korrekturen der visuellen Raumwahrnehmung können akustisch erfolgen bis hin zur Verschiebung der Raumgrenzen, die beim Hören weniger stark zentriert sind, beim Sehen aber zu eng zusammengezogen. Es kann jedoch auch die Verschiebung einer Schallquelle auf ein gesehenes, aber nicht tönendes Objekt erfolgen. Künstler, die im Bereich von Klanginstallationen arbeiten, haben dabei Effekte entdeckt, die wissenschaftlich noch nicht erforscht wurden.
Jonas Obleser, Kognitionsforscher (DE)
Von Zuständen und Merkmalen des Zuhörens
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Die Neurowissenschaften als Ganzes sind so vielfältig wie das Gehirn selbst. Der Hörsinn, mit seiner Komplexität hinsichtlich des zu enkodierenden Signals, stellt mithin also einen besonderen Testfall dar, wenn man Hypothesen über Gehirnfunktionen anstellen und überprüfen will: Wie leistet es das Gehirn, zu hören, zuzuhören, zu verstehen? Und was ist daran anders, gar komplizierter als beim Sehen? Für das Zuhören oder Hinhören (engl. “to listen”) ist mithin nicht das Sehen die zu wählende Analogie, sondern das Betrachten oder Hinschauen (engl. “to watch”, “to gaze”).
In meiner psychologischen und neurowissenschaftlichen Forschung steht immer die einzelne Zuhörende im Mittelpunkt: Ihr Zuhören dient immer auch bestimmten Verhaltenszwecken, und diese Zwecke unterscheiden sich und formen unsere Strategien des Zuhörens. Einen besonderen Platz nehmen in unseren empirischen Untersuchungen zum Zuhören aber die Hirnzustände („States“) und Hirnmerkmale („Traits“), die Individuen in eine Hörsituation mitbringen. An Ihnen lässt sich besonders gut zeigen, wie irreführend das – zu lange prägende – Bild von der vor allem „zuleitenden“ (afferenten) Hörbahn war, und wie richtig bereits Helmholtz’ Idee dessen war, was wir heute „predictive coding“ oder „active sensing“ nennen.
Gespräch mit Gernot Böhme, Jonas Obleser und Andreas Oldörp
Moderation: Jörg Biesler
samstag, 23. oktober 2021
15:00 – 18:00 uhr
lvr-landesmuseum
WELT HÖREN
Vorträge
Jonathan Sterne, Kommunikationstheoretiker (CA)
Eine Beeinträchtigungstheorie des Hörens
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Was bedeutet Hören, wenn Hörende nicht im Vollbesitz ihres Hörvermögens sind? In den Sound Studies werden Hören und Zuhören häufig als Modi der Offenheit für die Welt und das Andere romantisiert. Aber manchmal sind Nichthören, Nicht-gut-Hören oder Nicht-Zuhören genauso wichtig. In diesem Vortrag wird der Begriff Beeinträchtigungstheorie zur Beschreibung eines analytischen Feldes eingeführt, von dem aus Hören und Zuhören verstanden werden sollten. Unter Bezugnahme auf anthropologische Literatur zur Körpermodifikation und Forschung über Taubheit, wird die These aufgestellt, dass es ein Wesenskern moderner Stadtgesellschaften ist, das Hörvermögen ihrer Mitglieder zu transformieren. Des Weiteren werden Situationen betrachtet, in denen eine Hörbeeinträchtigung angenommen, erwartet, induziert und getestet wird, um zu zeigen, dass Nichthören und Nicht-Zuhören ebenso fruchtbar sein können wie Hören und Zuhören.
Hartmut Rosa, Soziologe (DE)
The Listening Society: Zuhören als mediopassive Form der Weltbeziehung
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Ausgangspunkt des Vortrags ist die These, dass das spätmoderne Weltverhältnis aufgrund der sozioökonomisch institutionalisierten Steigerungszwänge geradezu als ein Weltverhältnis der Aggression verstanden werden kann, dessen Kernmerkmal es ist, dass die Subjekte beständig zwischen ‚aktiven‘ Allmachtsansprüchen und ‚passiven‘ Ohnmachtserfahrungen hin- und herpendeln. Demgegenüber gibt es insbesondere in der Kunst alternative Weisen der Weltbeziehung, in denen sich Aktivität und Passivität die Waage halten, oder genauer gesagt: bei denen sich aktiv und passiv gar nicht scharf unterscheiden lassen. Musikhören ist ein paradigmatisches Beispiel dafür: Der grammatischen Form nach handelt es sich um eine aktive Tätigkeit, der Erfahrungsweise nach aber um eine (auch) passive ‚Affizierung‘. Tatsächlich müssen sich Affizierung (das Berührtwerden) und Selbstwirksamkeit (das aktive Mitvollziehen) hier auf eine ganz bestimmte Weise miteinander verbinden, damit die ästhetische Erfahrung gelingen kann. Diese (Beziehungs-) Weise lässt sich als Resonanzverhältnis bestimmen. Der Vortrag wird darlegen, was genau unter einer Resonanzbeziehung zu verstehen ist und auf welche Weise sich ihre Grundform – die mediopassive Beziehung des Hörens und Antwortens – als Modus des In-der-Welt-Seins auch auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen und daher als Alternative zum herrschenden Aggressionsverhältnis verstehen lässt.
Abschlussgespräch mit Sam Auinger, Helga de la Motte-Haber, Raoul Mörchen, Hartmut Rosa und Carsten Seiffarth
saturday, 23 october 2021
10 am – 1 pm
lvr-landesmuseum
HEARING AND SEEING
Lectures
Helga de la Motte-Haber, musicologist (DE)
Audiovisual Perception in the Context of Creating Art
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The sense organs are the interface between perception and environment. They transform incoming stimuli into a sensory experience. Only a limited section of the environment can be perceived and not all existing differences (absolute and relative threshold). However, a sensus communis, something common to all the senses, has now been frequently proven. The intensity of the stimulus impressions plays an important role. Light and sound can be easily parallelized (cross modality matching). They complement each other mutually. The so-called intermodal qualities, which are also present in a unimodal perception, are to be distinguished from this. Thus sounds can be experienced quasi visually as full, empty, round, thick, high or low etc. Their material basis is difficult to determine.
In sound, one experiences one’s own position in the surrounding space. But one cannot see space, but only objects around which the light is bent. The constructions of audiovisual perception are therefore of particular importance. The visual perception of space can be acoustically altered up to a shift of the boundaries of space, which are less strongly centered when listening; when seeing they are too tightly contracted. However, it is also possible to shift a sound source onto an object that is seen but does not sound. Sound artists have discovered effects that have not yet been scientifically researched.
Jonas Obleser, cognitive scientist (DE)
Listening: Of States and Traits
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The neurosciences as a whole are as diverse as the brain itself. The sense of hearing, with its complexity in terms of the signal to be encoded, therefore represents a special test case when hypotheses about brain function are to be made and tested: How does the brain manage hearing, listening and understanding? And how is this different, even more complicated than seeing? For listening, therefore, the analogy to be chosen is not seeing, but watching or gazing.
In my psychological and neuroscientific research, the individual listener is always at the centre of attention. Their listening always serves certain behavioral purposes, and these purposes differ and shape our strategies of listening. However, in our empirical studies on listening, special emphasis is placed on the states and traits that individuals bring to a listening situation. They are a particularly good example of how misleading the image of the primarily “afferent” auditory pathway – which has been dominant for too long – was, and how right Helmholtz’s idea was of what we now call “predictive coding” or “active sensing”.
Conversation with Gernot Böhme, Jonas Obleser and Andreas Oldörp
Moderation: Jörg Biesler
saturday, 23 october 2021
3 pm – 6 pm
lvr-landesmuseum
LISTENING TO THE WORLD
Lectures
Jonathan Sterne, communication theorist (CA)
An Impairment Theory of Listening
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What does it mean to listen when the listener is not in complete command of their faculties? In sound studies, hearing and listening are often romanticized as modes of openness to the world and to alterity. But sometimes not hearing, not hearing well, or not listening are just as important. This talk introduces the term impairment theory to describe an analytical field from which listening and hearing ought to be understood. Drawing on anthropological literatures on body modification, as well as critical literatures on Deafness, it argues that modern, urban societies are built to transform their dwellers’ capacities to hear. It also considers contexts in which hearing impairment is assumed, expected, induced, and tested in order to argue that not hearing and not listening can be just as generative as hearing and listening.
Hartmut Rosa, sociologist (DE)
The Listening Society: Listening as a mediopassive form of relating to the world
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This lecture begins with the thesis that our late modern relationship to the world can be understood as relationship of aggression caused by the socio-economically institutionalized logic of escalation (Steigerungszwang). The core characteristic of this relationship is that human subjects constantly oscillate between ‘active’ claims to omnipotence and ‘passive’ experiences of powerlessness. In contrast there are, especially in art, alternative ways of relating to the world in which active and passive are in balance, or more precisely: in which active and passive cannot be sharply distinguished at all. Listening to music is a paradigmatic example of this: grammatically, listening is an activity, but it is (also) experienced as a passive ‘affectation’ (being touched). In fact, both affectation and self-efficacy (active participation) have to be combined in a very specific way to produce an aesthetic experience. This combination can be defined as a resonance relation. This lecture will explain what resonance relation is and in which way its basic form – the mediopassive relation of listening and responding – as a mode of being-in-the-world can also be transferred to other social spheres and therefore be understood as an alternative to the prevailing relationship of aggression.
Final discussion with Sam Auinger, Helga de la Motte-Haber, Raoul Mörchen, Hartmut Rosa and Carsten Seiffarth
Moderation: Raoul Mörchen