Anfang Juni 2013

Pünktlich zum Monatsende waren sie frühmorgens wieder da, die Männer auf ihren grünen Maschinen. Diesmal gleich im Doppelpack, vor dem Haus und hinter dem Haus wird synchron gemäht, was das Zeug hält. Dazu, als Coda, kommt ein kreischender Kantenmäher, der sorgfältig um alle Ecken geführt wird. Diesmal bin ich vorgewarnt, öffne weit meine Fenster, positioniere die Mikrofone und mache eine einzigartige Aufnahme des Heavy Metal Mäh-Konzertes, während ich vom Bett aus zuhöre.

Dann ist alles plötzlich wieder still, friedlich und kurzrasiert liegt der Rasen da. Die Vögel singen, der Regen tropft, von weitem hört man die Schiffe vom Rhein.

Jeden Morgen besuche ich den Fluß. Inzwischen kenne ich den Rhein am Ufer des Parks Carstanjen gut. Ich kann die verschiedenen Schiffe und Züge unterscheiden, ihr Aussehen und ihre Geräusche. Auch das Wasser selbst, die leisen oder manchmal auch lauten Klänge gegen die Böschung, die Steine oder Mauern, ist mir vertrauter geworden. Die Klänge sind immer anders, überraschend vielfältig. Manchmal klingt es wie flache Wellen am Meer, manchmal wie ein laufender Bach, manchmal sogar wie eine Brandung.

Landschaft zu verstehen, ihre Komplexität, den ständigen Wandel braucht mehr als nur einen flüchtigen Blick oder ein kurzes Hinhören. Landschaft sehend und hörend kennenzulernen und zu verstehen braucht eine gewisse Zeitspanne, die ich hier zum Glück habe.

Dann kommt das Hochwasser. Der frischgemähte Rasen versinkt nahtlos im schmutzig grauen reißenden Wasser, Radwege und Bänke sind verschwunden, der Rhein überflutet in der Innenstadt die Promenaden. Die Geräusche des Wassers sind lauter als sonst, intensiver und beunruhigend. Der idyllische Strom, das glänzende Wasserband durch die Landschaft, die gepflegte Wasserstraße, verwandelt sich in braune Fluten ohne erkennbare Grenzen zum Ufer.

Nach einigen Tagen geht der Strom zurück. Schon von weitem höre ich ein fast gongartiges Metallgeräusch vom Ufer her. Ein sich im Wasser um seine eigene Aufhängung drehender Papierkorb schlägt jedesmal, wenn er voll ist, gegen die dahinterliegende Mauer und entleert sich. Eine Klangskulptur von Vater Rhein. bonn hoeren entwickelt sich in alle Richtungen.

Meine Forschungen wird jetzt öfters unterbrochen von anderen Verpflichtungen: Vorträge, Seminartage, die Stadtklangforen. Dabei komme ich auch ins Gespräch mit vielen Bonnern. Und eines der wichtigen Themen ist, auf welcher Rheinseite man wohnt. Auf der rechten, der Sonnenseite, der Beueler, der ländlichen Seite? Oder der linken, der städtischen, der Residenzstadt? Die Beueler Bonner sagen: ich habe hier alles, was ich brauche, hier ist es schön und wenn ich mal einkaufen will oder ins Museum, dann fahre ich eben rüber. Die Bonner Bonner sagen meist gar nichts, für sie gibt es sowieso nur ein Bonn mit “Anhang” auf der anderen Seite, wo man mal rüberfährt, um auszuspannen. Und wie kommt man ans andere Ufer?

Im Katasteramt hole ich mir eine alte Rheinkarte von 1845, in der nur eine einzige Fähre eingezeichnet ist. Heute gibt es in Bonn drei Brücken und vier Fähren, dazu die öffentlichen Verkehrsmittel, jede Überquerung ist eine gewisse Entscheidung und bringt einen mit dem Wasser in Verbindung. Die Konrad-Adenauer-Brücke und die Friedrich-Ebert-Brücke führen jeweils über ein Naturschutzgebiet bzw. einen Erholungspark.

Ich fahre mit dem Rad zur Adenauer-Brücke und höre schon von weitem das Getöse. Menschen sitzen auf den Rasenflächen, aber so weit wie möglich entfernt von der Brücke, selbst wenn sie sie nicht sehen. Oben auf der Brücke mache ich eine völlig neue Erfahrung. Der Lärmpegel ist grandios, wagnerianisches Getöse mit purem Romantikblick auf das Siebengebirge und die Stadt Bonn. Vielleicht sollte man kostenlose Ohrschützer am Beginn der Brücke verteilen, um diesen einzigartigen Blick für den Tourismus zugänglicher zu machen.

Auf der Beueler Seite mit Blick auf den Post Tower halte ich an, lege mich ins Gras und lausche den Vögeln. Sie sind hier lauter als an anderen Orten. Einer klingt wie eine wütende Schreibmaschine, hart und rhythmisch. Es ist bekannt, daß sich Vögel für ihre Gesänge Frequenzbereiche suchen, in denen sie gut hörbar sind. Die Auswahl scheint nahe der Brücke eher nicht besonders groß zu sein.

Zum Ausgleich fahre ich bald danach zur Burg Gudenau in Villips. Auch hier noch Verkehr bis zum direkten Eingang zur Wasserburg, aber im Inneren wird es bald ruhiger und im weitläufigem Park ist er nur noch leise zu hören. Ich fühle mich schlagartig anders, besser, erleichtert, beruhigt, friedlich. Der Blick in den Park und die Landschaft dahinter ist frei von Bauten. Ich kann weit und klar sehen, das Nahe und das Ferne in eine Relation setzen. Genauso ist es mit den Klängen, ich höre kleine Insekten, Blätterrauschen, meine Schritte, etwas entfernt einen Springbrunnen, einen Bach und aus der Ferne Glocken, Tiere, ab und zu ein Auto. Das wohl meinten die Romantiker, wenn sie von Stille sprachen und dabei das Hören in einem stillen Landschaftsraum beschrieben, wo man auch auf weite Entfernungen einen Klang hören und sich daran orientieren konnte.

Wieder auf der Brücke: mir kommt hier das Hören vor wie der Blick in eine Landschaft, die im dichten Nebel versinkt. Es gibt keine Räumlichkeit der Wahrnehmung mehr, keine Weite, keinen Bezug zum eigenen Standpunkt. Das alles ist natürlich altbekannt, aber dadurch, daß ich diese Wahrnehmung persönlich mache, erscheint sie mir neu.