Ende Mai 2013

C.S. hat mir ein Buch ausgeliehen von Hansjörg Küster: Schöne Aussichten. Ein Satz prägt sich mir gleich am Anfang besonders ein: Landschaft entsteht beim Betrachten der Einzelheiten von Natur und Kultur erst dann, wenn sie in einen Zusammenhang gestellt und interpretiert werden. Einige Landschaften sucht man gerne auf, von anderen wendet man sich schnell ab. Die Ansichten darüber, welche Landschaft man besonders schätzt, ändern sich mit der Zeit, vielleicht im Laufe eines Lebens, vielleicht im Urteil der Zeitgenossen mehrerer aufeinanderfolgender Epochen.
Wie sehen die Bonner heute ihren Rhein? Wie hören sie ihn?
In den nächsten Tagen besorge ich mir Flußkarten, Rheinpanoramen, eine Monatskarte der swb, einen Büchereiausweis, antiquarische Bücher über den Rhein und eine gute Regenjacke. Das Wetter ist jetzt kalt, feucht und unangenehm.
Ich beginne, erste Aufnahmen am Rhein zu machen mit einem guten Stereomikrofon, Stativ und verschiedenen Recordertypen. Erst durch das Hören beim Aufnehmen werden mir neue Aspekte und Fragen zu der akustischen Wahrnehmung von Landschaft klarer.

1. Wie klingt der Rhein am Wasser (mit Blick auf die Landschaft am gegenüberliegendem Ufer)? Ich sehe die Landschaft in der Ferne, höre aber das, was mich direkt umgibt.
2. Wie klingt der Rhein unter dem Wasser? Ich bestelle zwei Hydrophone. Jana Winderen, Freundin und Kollegin aus Norwegen, die Spezialistin für Unterwasseraufnahmen, empfiehlt mir ein Mikro im mehrstelligem Eurobereich, gibt mir aber auch andere Tipps, mit denen ich beginne.
3. Wie klingt der Rhein über dem Wasser? Auf den Brücken?
4. Wie klingt der Rhein auf dem Wasser, auf den Fähren, den Schiffen, den Anlegestellen? Was sehe und höre ich, wenn ich mich auf dem Fluß bewege, wenn ich ihn kreuze, wenn ich auf ihn herabblicke, wenn ich ihn vorbeiziehen sehe? Welche Landschaften unterschiedlicher Art nehme ich wahr?

Allmählich kann ich die verschiedenen Züge und Schiffstypen am Geräusch besser unterscheiden. Ein Freund, der in Bonn aufgewachsen ist, sagte mir, daß noch in den 1970er Jahren die Schiffe sehr rhythmisch tuckernd, brummend und stampfend klangen. Heute haben sie ein eher gleichmässiges Geräusch. Liegt das an neuen, auch digitalen Techniken, an neuen Motoren, an strengeren Gesetzen zum Schallschutz?
Frühmorgens an der Siegmündung, einer der wenigen naturbelassenen Auen am Rhein. Eine Welt fernab von Hektik, ein kleiner Hafen und viele Hunde die spazieren gegangen werden. Die Schiffsgeräusche sind hier klarer und besser zu unterscheiden, wenn sie relativ nahe am Ufer vorbeifahren. Das Grün wuchert, es gibt eine mangrovenartige Landschaft und kleine verzweigte Flußarme. Der große Regen vereitelt weitere Forschungen und beschert mir eine Erkältung.
Ich fange an, Postkarten mit Rheinlandschaften zu suchen. Im Stadtmuseum und im Rheinischen Landesmusem gibt es den Rolandsbogen, den Drachenfelsen und die Insel Nonnenwerth in unglaublich schönen Ansichten mit pastellfarbenen Tönen im Abendlicht. Man sieht kleine Schiffe, einige mit Segeln, andere mit Ruderern, geduckte Häuser am Ufer und Spaziergänger am Rhein stehend, die mit weiten Gesten in die Landschaft weisen. Die BIlder sehen alle so still aus und ich frage mich: was haben die Leute dort damals gehört? Haben sie vielleicht auch selbst gesungen. Gab es Tiere? Was machte der stets so ruhig aussehende Rhein für Geräusche?
Wir haben so viele Bilder aus der Vergangenheit ohne ihre Klänge. Unsere Wahrnehmung von Landschaft ist hauptsächlich visuell geprägt.
Wie klingt Landschaft.
Inzwischen habe ich mehrere Schiffsfahrten gemacht, vorzugsweise mit der Moby Dick. Das Schiff “Beethoven” ist nicht zu empfehlen, wegen der ununterbrochenen Schunkellieder, die selbst gespielt werden, als ich an einem total verregnetem Nachmittag als einziger Passagier von Linz nach Bonn fahre. Ich frage: Können Sie diese Musik nicht abstellen? Nein sagt der Mann, der etwas zu sagen hat auf dem Schiff, wir sind schließlich ein Musikschiff!

Der Dauerregen macht Bonn zu einem untouristischen, oft grauen und manchmal sogar vernebeltem Ort. Man kämpft mit Regenschirmen und steht gemeinsam unter Dächern und Vorsprüngen, um dem Naß zu entrinnen. Diese Normalität, die so gar nichts mit der Rheinromantik zu tun hat, hilft mir, mich schnell einzugewöhnen und ein Gefühl des Hierseins zu entwickeln. Auf den Fähren zieht man den Kragen hoch und verlässt das Schiff so schnell wie möglich. Die Fahrradfahrer sehen sehr professionell geschützt aus und zischen vorbei. Die Schiffsanleger ächzen und dazu tropft es auf alle möglichen Oberflächen.
Ich beginne, über eine Hörkarte am Rhein nachzudenken.
Die große Enttäuschung des Monats: der Rolandsbogen.
Ein von jedem kleinsten Blatt Efeu befreiter Steinbogen, der aussieht, als wäre er gerade als Theaterkulisse frisch gebaut worden. Man kann ihn betrachten, durch die gestylte Metallkonstruktion des Edelrestaurants. Man sitzt in einer Art Glaskäfig an funkelnagelneuen Tischen und fragt sich, was denn hier passiert ist. Der “siebtschönste Blick der Welt” auf ein Gourmetrestaurant, das mit seiner Glas- und Metallkonstruktion aussieht wie ein typischer neuer deutscher Bahnhof?

Ist die berühmte Landschaft schon so zur Nebensache geworden, daß sie nur noch als kommerzielle Hintergrundbeschallung dient?
Aber es gibt auch die Versöhnung: die Ausblicke auf den Rhein von den Wanderwegen des Naturschutzgebietes am Roddersberg. “Romantischer” geht es kaum, nur die Autogeräusche von der Uferstraße sind hier oben noch deutlicher zu hören als beim Aufstieg.
Könnte man Klanglandschaften für Landschaften komponieren, um deren Wahrnehmung zu verändern?